Ich pendle täglich. Beruflich wie privat. Geboren, um zu pendeln. Ein Leben im Zug. Meistens fahre ich abwechslungsweise einen Weg in der ersten Klasse und den nächsten in der zweiten Klasse. Die Prinzipien Man gönnt sich ja sonst nichts und Wer den Pfenning nicht ehrt in höxt konstruktiver Weise kombiniert. Preisbewusstes Teilzeit-Dolce-Vita, Savoir vivre to go! Auf jeden Fall sind erste und zweite Klasse durch eine blickdichte Milchglas-Scheibe getrennt, in deren Mitte nur eine durchsichtige «1» zu sehen ist. Interessant eigentlich, die erste Klasse ist viel stärker gekennzeichnet als die zweite Klasse. Bist du sicher, dass du ein Mensch erster Klasse bist?, wird uns suggestiv suggeriert. (Sagt man das so? Bestimmt nicht, egal, die 5 gerade sein lassen, Sonntag, geschenkt.)
Auf jeden Fall: Genau durch diese glasig-durchsichtige «1» ertappt mich eine ältere Dame beim Nasenbohren. Natürlich bohre ich nur rein fiktiv in der Nase, um dieser Geschichte Würze zu verleihen, irl (in real life) würde ich dies niemals tun. Meine Nase ist ein Hort keimfreier Respiration, Luftzirkulation 24/7 gewährleistet, bei der Umstellung auf Winterzeit sogar 25/7. Ich merke also, dass ich beobachtet werde, nehme den Finger aus der Nase (der kleine Finger, habe in Tat und Wahrheit sowieso nur dezent am Nasenhöhleneingang gekratzt – trotzdem, das könnte ich auch zu Hause machen), blicke zurück – und jetzt kommt’s: Die Lady schaut diskret weg. Als wäre nichts gewesen, schaut sie aus dem Fenster und beobachtet die vorbeziehende Landschaft (Was für eine abgedroschene Scheiss-Formulierung, die vorbeiziehende Landschaft, 59’100 Google-Suchtreffer, meine Literatur versinkt im Nirwana des Mainstreams, ich muss mir dringend neue Wörter und Ausdrücke anschaffen).
Also, die diskrete Dame signalisiert mir: Ich habe nichts gesehen, junger Mann. Was in der S-Bahn passiert, bleibt in der S-Bahn. Ich nehme dieses Geheimnis mit ins Grab. Mach dir nichts draus, wir haben alle schon in der Nase gegrübelt. Kopf hoch, junger Mann. Was für eine würdevolle Geste, sowas können nur alte Leute, die schon alles er– und notabene überlebt haben. Manch einer könnte denken: Dieser Sauhund, hat bestimmt nicht mal einen gültigen Fahrausweis, nicht so aber diese noble Dame, deren Stilgefühl und Weltläufigkeit den ganzen Wagen durchhaucht.
Danke, gnä‘ Frau. Von Ihnen lernen heisst gewinnen lernen.