Der Feind ist im Kopf! Lebensschule am Hauptbahnhof.

Sonntagabend, 17 Uhr, Nieselregen. Ich sitze auf einer Bank am Hauptbahnhof. Klingt langweilig, ist es aber nicht. Schon gar nicht, wenn man dazu ein kleines Sedativum konsumiert. Heute regt es mich dazu an, in aller Ruhe mitten in einer hektischen Menschenmenge ein E-Book zu lesen. Über C. G. Jungs Archetypen. Die Lebende, der Narr, der Weise, die Heilende, und so weiter. Da erscheint plötzlich ein solcher Archetyp vor mir. Ungewaschen, unrasiert, mit Bier und Kippen ausgerüstet. Der Ausgestossene.

Er beugt sich zu mir herunter, tippt ein paar Mal auf den Bildschirm meines Smartphones und fordert mich auf, meine Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen. Noch so gerne. Ich schliesse die Buch- und Musik-Apps und bitte ihn, Platz zu nehmen.

«Du lebst doch in einer eigenen Welt», sagt er. – «Wie meinen?», ich. – «Na, hier denk. Im Handy. Die SMS-Welt, bestehend aus Chef, Mama und Freundin.»

Schön zusammengefasst. Ist mir sofort sympathisch, der Typ. Dann kommt er plötzlich auf den zweiten Weltkrieg zu sprechen. Die Bombardierung Schaffhausens, das Boot ist voll, die angeblich einseitige Geschichtsschreibung. Religion und Politik sind beim ersten Gespräch tabu, lernt man in jedem Beziehungsratgeber. Wäre mir aber immer noch lieber als Scheiss-Smalltalk.
Trotzdem sage ich ihm: «Sorry, dieses Thema juckt mich gerade nicht», – «Haha. Juckt dich nicht? Einfach gar nicht? Das ist gut, Junge! Mich juckt leider alles. Die Welt, das Geräusch des einfahrenden Zuges, meine Gedanken – mich juckt einfach zu viel! Das ist mein Problem» Er reibt seine Augen, zieht seine Mütze ab, klopft sich ein paar Mal auf die Schläfen. Ich habe einen Freund gefunden.

Er holt eine Kippe aus der Jackentasche, bricht den Filter weg, raucht sie in einem Zug, und sagt dann: «So, ich muss mal eine rauchen.» Hä, hat er doch gerade? Egal, er macht’s gleich wieder. «Dir bricht immer der Filter weg», bemerke ich. «Absicht. Mache ich immer so», meint er. Resignation als Lifestyle, finde ich gut. Wenn schon Lungenkrebsrisiko, dann gleich ein richtiges! «Filterloses Rauchen – jetzt 40 % mehr Risiko», denkt der zynische Werbetexter in mir.
Sein mitgebrachtes Löwenbräu rührt er allerdings bis zum Schluss nicht an, auch wenn ich ihn mehrmals auffordere, mit mir anzustossen.

In den nächsten 15 Minuten kommentiert er einfach alle Menschen, die an uns vorbeilaufen. Zwei 12-Jährige in Sportklamotten und mit neonfarbenen Turnbeuteln: «Guck mal, die beiden, haben sicher gerade beim Faustball verloren». Fantasiereich und schlagfertig, mein Freund.
Der Tattergreis, dem ein Hosenknopf zu Boden fällt: «Das war kein Knopf, das war ein Smaragd aus dem Uralgebirge.» Herrlich. Ich kriege einen Lachkrampf, er lacht kurz mit, aber eigentlich ist ihm nicht zum Lachen zumute.
Wir beobachten eine Taube, die am Boden liegende Dönerreste aufpicken will, sich aber wegen der vielen Menschen nicht traut: «Die arme Taube hat Hunger. Aber sie hat Angst vor den Menschen.» – «Hast du auch Angst vor Menschen?», frage ich. «Nein, ich habe nur Angst vor ihm». Vor ihm? Er zeigt auf seinen Kopf. «Der macht mir Angst. Das ist scheisse, ist das». Glaube ich dir, Amigo, glaube ich dir.

Er wird immer ernster und lässt nun die meisten Menschen unkommentiert vorbeiziehen. Nur als eine bieder gekleidete Mutter ihren Sohnemann im Buggy über eine Markierung am Boden schiebt, ruft er ein letztes Mal euphorisch: «Jawoll, junger Mann, du hast die Ziellinie erreicht, du bist Erster, junger Mann!» Er klatscht dem Kleinen zu, ich mache natürlich mit. Der Kleine guckt uns neugierig an. «Schau mal, der Junge hat uns angeguckt! Wir sind seine Fans, und er hat uns gesehen!», freut sich mein Freund. Die Mutter flüstert derweil: «Nicht hinschauen, Luca, nicht hinschauen». – «Verklemmte, dumme Kuh». Sage ich. «Ist doch egal, der Kleine hat uns angeschaut, das zählt». Überraschend positiv.

Dann läuft eine dunkelhäutige Familie vorbei. Ich habe ein bisschen Angst vor seinen Kommentaren. «Wenn ich die Schwarzen so sehe, weisst du, was ich dann denke? Die waren doch früher Gefangene. Aber ich bin auch ein Gefangener. Ein Gefangener meines eigenen Kopfs!» Er reibt sich wieder die Augen, und zu allem Übel hat er jetzt auch noch Schluckauf.

Meinem Freund geht es schlecht, physisch wie psychisch. Er habe Angst vor nächster Woche. Dann müsse er seine Mutter im Erzgebirge besuchen. Das mache ihm Sorgen.
Ich sage ihm, er soll noch nicht an nächste Woche denken. Schliesslich bin ich auch gerade dabei, den Montag zu verdrängen. Deshalb frage ich ihn, was er heute Abend noch vorhabe. Ob wir vielleicht was zusammen essen wollen. «Geht nicht, interne Gespräche», sagt er. Ich weiss, was er meint. «Intern? Du und deine Gedanken?» – «Ganz genau, junger Mann, ganz genau! Einen solchen Menschen wie dich könnte ich gut gebrauchen, aber ich lasse es nicht zu. Alle sagen mir: ‚Mensch, mach mal was aus dir!‘ …» – «… aber du kriegst es einfach nicht hin, stimmt’s?» – «Stimmt!» – «Geht mir doch auch so», sage ich ihm. Ich habe vielleicht eine bessere Jugend gehabt, ein besseres Umfeld, Glück mit Ausbildung und Job – aber wenn man diese Parameter abzieht, kriege ich nicht mehr hin wie mein Freund. Gammle sonntagabends am Hauptbahnhof, um Stoff für meinen nächsten Text zu kriegen.

Sein Schluckauf geht nicht weg, er hat nun auch noch Kopf- und Bauchschmerzen. Ich frage, ihn ob wir nicht doch etwas zu Essen holen wollen. Oder ein Aspirin. Wenigstens ein paar Taschentücher. Er lehnt ab. Ich merke, dass er nun Zeit für sich braucht. Meine Fragen nerven ihn. Das Gesprächskontingent ist erschöpft. Aber ich habe ihn als sehr freundlichen und selbstreflektierten Menschen kennengelernt. Und so sagt er mir, kurz bevor seine Laune ganz kippt: «Geh du am besten mal ein bisschen laufen». Ich verstehe, was er meint. «Okay, ich gehe dann mal. Soll ich später wiederkommen?» – «Warum nicht. Ich bin noch lange da». Als ich drei Stunden später zurückkehre, ist die Bank leider leer. Im Gegensatz zum Kopf meines armen Freundes. Der dürfte noch einige Faxen machen im Laufe des Abends. Denn der Feind ist im Kopf. Gedanken machen Angst.

Bild von hier.

3 Kommentare

  1. Wunderbarerer Text – so echt, so wahr – wie das Leben eben ist, wenn wir es nicht mit Farbe, lauten Tönen und Ablenkungen aller Art kaschieren! Danke!

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s