Drogen in Winterthur

Der Opa trägt eine modische Lederjacke, eine ausgefranste Jeans und Converse. Kurzes weisses Haar, dünner weisser Schnauz. Hochwertige Kopfhörer in den Ohren, ein hochwertiges Smartphone in der Hand. Schlanke Figur, markante Gesichtszüge, Goldkettchen – ein Macho light in Pension, Marke #Auslaufmodell.

Sein Auftritt überzeugt – aber leider nur optisch. Denn jetzt fällt er rückwärts hin, voll auf seinen schmalen Knackarsch. Sturzbetrunken, komplett dicht, am Ende seiner Kräfte.

Ein gutgelaunter junger Latino und ein tiefenentspannter langhaariger Schweizer helfen ihm auf. Die beiden sind noch nicht ganz so besoffen, aber auch schon gut angetrunken. Willkommen in Winterthurs kleiner Drogenszene auf dem Merkurplatz.

Der Opa sitzt nun wieder auf der Steinbank, zumindest für einige Sekunden. Dann fällt er wieder runter. Es wird ihm wieder aufgeholfen. Er fällt wieder. «Wichtig ist nicht, wie oft du hinfällst. Wichtig ist, wie oft du wieder aufstehst», behaupten empathiebefreite Coaches, Speaker und LinkedIn-Scharlatane. Bla bla! «Wichtig ist, wie oft man dir wieder aufhilft», beweisen die Alkoholiker hier. Weniger Erfolg heisst nicht weniger Charakter! Berührende Szene.

Hinter dem alten Macho zieht ein weiteres Unikat seine Runden, nicht weniger stilecht: die langen Haare zum Dutt zusammengebunden, ein Jutebeutel an der linken Schulter und ein Spazierstock in der rechten Hand. Mit dem Stock sucht er seit Minuten akribisch den Boden ab. Das «Rauf und runter» des Alki-Machos ist das «Hin und her» des Alki-Hipsters. Da ist Bewegung drin. Wonach er sucht, weiss ich nicht.

Ich habe auch keine Zeit, nachzufragen bzw. mitzusuchen, denn plötzlich rempelt ihn eine Frau an, keine Absicht. Er kann sich knapp auf seinen Beinen halten, sie läuft zielstrebig weiter. Eine Gruppe ruft ihr hinterher: «Wohin gehst du?» – «Bier holen». War klar. Ein Standarddialog für die authentische Geräuschkulisse.

Apropos Frau: Die Alkoholiker verteilen sich hier in 7–8 Gruppen à ca. 7–8 Menschen, und in jeder Gruppe genau 1 Frau. Zahlen bis zwölf schreibt man aus? Nicht, wenn es um Alkohol geht. Siehe «3 Promille», eben! Auf jeden Fall sind die Frauen gut aufgeteilt hier. Können sie sich nicht leiden? Oder kümmern sie sich viel eher im Rahmen einer vorbildlichen Aufgabenteilung um die Männer? Den generell wirken die Damen hier noch ein bisschen klarer als die Herren. Beispiel:

Er: «4’500 Franken hat man mir gestohlen. Ich hatte die in bar auf meinem Wohnzimmertisch, als ich schlafen war, mit einer Schlaftablette, und am Morgen war das Geld weg. Das war für meinen Sohn! Damit er die Autoprüfung machen kann.»
Sie: «Du hast einen Sohn, welch ein Glück! Hör doch auf zu klagen, du hast wenigstens einen Sinn im Leben.»
Er: «Was ich alles schon erlebt habe, wünsche ich nicht mal meinem schlimmsten Feind». Jaja, Plattitüde, ich bin ein bisschen enttäuscht. Sie ist es auch:
Sie: «Mach was aus dir!»
Er: «Ich suche ja einen Job.»
Sie: «So wie du aussiehst, würde nicht mal ich dich einstellen.»
Er: «Ich weiss, zuerst der Job.»
Sie: «Nein. Zuerst dein Aussehen.»
Ich muss spontan an ein Huhn und an ein Ei denken.
Sie nochmals: «Ändere dein Leben! Nutze deine Chancen! Change and Chance!»
Change and Chance, guter Claim, muss ich mir merken.

Der Vater ohne Geld und Job ist leider nicht der einzige mit Schicksalsschlag. In einer anderen Gruppe höre ich folgende Geschichte: «Ich fahre nach Hause, ohne Platten. Nächster Morgen: Platten! Schon zweimal diese Woche. Schon zweimal haben Sie mir einen Platten gemacht!» Er zeigt auf sein schickes Rennrad. Ich schätze dessen Wert auf 2’500 Franken. Das Sixpack Bier neben ihm: 4 Franken 95.

Nächste Gruppe: 7 Männer und 1 Frau diskutieren über Alltägliches. Sie rülpst. Alle sind ruhig, gucken sie an. Sie: «’tschuldigung!». Alle nicken, die Gespräche gehen weiter. Anstand ist keine Frage des Pegels.

Der Opa beginnt nun, mit seinen Kopfhörern und dem Handy Jo-Jo zu spielen. Runter, rauf, runter, wir kennen das von ihm ja schon so. Das Spiel geht ein paar Sekunden gut, dann löst sich das Handy bei der nächsten Aufwärtsbewegung von den eingesteckten Kopfhörern, fliegt im klischeehaften «hohen Bogen durch die Luft» und fällt dann auf den Asphalt. Der Opa tut es seinem mobilen Telefon im Bruchteil einer Sekunde gleich. Man hilft ihm wieder auf, setzt ihn wieder auf die Steinbank und gibt ihm sein Handy zurück. Er steht wieder auf, wirft das Handy in die Luft und fängt es wieder auf. Leider wird er übermütig und wirft es jetzt noch höher in die Luft. Er kann es nicht mehr auffangen.

Ein Tamile ist die erbärmliche Szene leid: «Jemand ‘elfe diese Mann. Bitte! Jemand ‘elfe!» Der Latino kümmert sich wieder um ihn, denn der Tamile selbst hat gar keine Zeit. Er muss Audio-Nachrichten aufnehmen: «I love you, you are beautiful, bye!» Und das gleich dreimal in einer Minute. Wer viel trinken kann, kann auch viele Frauen haben. Eine Frau pro Promill und Tamil? Egal.

Der gescheiterte Journalist in mir will nun den Bogen zum Anfang spannen. Also gut: Die Frau vom Beginn der Geschichte ist mit neuem Oettinger-Vorrat zurückgekehrt. Man freut sich. Doch sie trübt die Stimmung:

«Nein, ich bleibe nur noch kurz. Ich warte nur noch auf jemanden, der mir gesagt hat, er könne Ritalin kaufen».
«Wie sieht er denn aus?», will man wissen.
«Es ist ein Mann. Schwarze Kleidung, Fahrrad».
Alle halten Ausschau, vergeblich. Der Mann mit der schwarzen Kleidung und dem Fahrrad kommt nicht. Die Frau bleibt trotzdem noch ein bisschen, denn sie weiss:
«Der Adriano sollte demnächst noch kommen.»
«Welcher Adriano?»
«Äh, ich meine die Barbara».

Jetzt hole ich mir auch ein Bier.

Bild von Nejmlez.

Ein Kommentar

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s