Zücken Sie einen Stift und schreiben Sie mit: «Der Herbst ist nur so langweilig wie man selbst». Punkt. Doppelter Zeilenumbruch.
Beispiel: Ich sitze gerade in einem Bummelzug im deutschen 5’000-Seelen-Grenzdorf Jestetten (Einkaufstourismus) und gucke aus dem Fenster auf den gegenüberliegenden Bahnsteig, weil der Zug erst in 30 Minuten abfährt. Nächster Halt: Neuhausen am Rheinfall (Sehenswürdigkeitentourismus).
Auf den ersten Blick sehe ich eine graue Nebelsuppe, halbkahle Bäume und eine Frau mit Hund auf Gleis 1. Aber nur auf den ersten Blick!
Jetzt schärfe ich meine Sinne und öffne mich für die kleinen Besonderheiten, die das Leben in jedem Augenblick bereithält. In diesem Fall bleibt mir fast nichts anderes übrig, als die Frau mit Hund näher unter die Lupe zu nehmen. Na gut, lasset die Spiele beginnen:
Sie (gemeint ist die Frau, wer sonst) hat kurze graue Haare und ein unspektakuläres Gesicht, Kategorie Mainstreamgesicht. Kennst du eines, kennst du alle. Die Standardversion. Der Hals ist von einem grauen Schal bedeckt, den sie sich die sympathische Mittsechzigerin drei-, vier-, fünfmal umgebunden hat. So viel Material, das ist vermutlich gar kein Schal mehr, sondern eher ein Tischtuch oder ein Badetuch oder gar ein persischer Teppich. Dass die Frau überhaupt noch Luft kriegt?? Es gibt ja die Function-Schalträger (European Loop) und die Style-Schalträger (Celebrity Knot) – und dann gibt es diese Frau, die sich einfach mal 20 Quadratmeter Stoff um ihren Hals bindet – und dies an einem vergleichsweise milden Oktobertag. Aber hey, sie kann es tragen, es steht ihr gut, es passt zum Gesamtauftritt, der durch graue Jacke (Fleece) und graue Tasche und graue Hosen abgerundet wird.
Das eigentliche Problem sind nicht ihre Optics, sondern ist ihr Behaviour. Sie scheint komplett durch den Wind bzw. neben den Schuhen (Gesundheitsschuhe). Die Alte ist nervös und man merkt es ihr an. Zumindest, wenn man sie wie ich aus purer Langweile seit 10 Minuten anstarrt. Jaja Nico, selber den Brüskierten spielen, wenn sich Leute für Milisekunden zu mir umdrehen, wenn ich als pinke Tunte durch die Welt hüpfe, aber dann ganz ohne Skrupel eine UNSCHULDIGE ALTE FRAU AUNGAFFEN SAG MAL GEHT’S NOCH?
Wobei, ihre Unschuldigkeit muss ab diesem Moment angezweifelt werden. Meine These: Sie wartet auf ihren Drogendealer. Die These wird gestützt von der Tatsache, dass ihr Einkaufswagen fast leer ist. Der muss nämlich noch gefüllt werden! 1 + Eins = Zwo, weiss doch jedes Kind.
Oder aber sie ist selbst die Dealerin und hat das gute Zeug in ihrem Schal versteckt. Der Stoff im Stoff, haha, ein Schal mit doppeltem Boden, nochmal haha. Und plötzlich scheint alles so viel Sinn zu machen, äh: SINN ZU ERGEBEN, denn SINN MACHEN ist ein Anglizismus, sorry not sorry.
Wir halten fest: Die Alte ist dick im Geschäft, wie ein Elefant im Porzellanladen, kleiner Kalauer am Rande. Vermutlich ist sie die Anführerin eines Drogenrings, ganz alleine an der Spitze der Nahrungskette, Stichwort Spitzenpredator*in. Die Frau mit dem Schal, weil man ihren Klarnamen nicht nennen darf. Oder nur Mrs Grey.
Und plötzlich geht alles ganz schnell: Die Frau schaut nach links, greift ihren Einkaufswagen und rennt mit ihm davon. Ich schaue ihr nach. Könnt ihr die Spannung noch aushalten? Ich auch nicht, *fürchtfürcht* uiuiui. 3, 2, 1 …
Ihr Zug ist gekommen! Pamm! Sie steigt gerade noch rechtzeitig ein, nur ein einzelner Jogurt (Haselnuss) fällt aus dem fast leeren Einkaufswagen. Pamm! Im Zug kommt der Schaffner, aber die Frau hat einen gültigen Fahrschein, Happy End in letzter Sekunde. Uff, *erleichtert seufz*.
Geschichten, die nur der Alltag schreibt. Zum Glück.