Kapitalismus am Arsch der Welt!

Donnerstag, 10.45 Uhr, grauer November im Neuhausischen, an der Grenze zu Deutschland. Ich befinde mich: Am Bahnhof. Im Avec. Ein Avec ist eine «kleinflächige Verkaufsstelle» an «Hochfrequenz-Standorten wie Bahnhöfen». Der Bahnhof Neuhausen hat zwei Gleise. Die erste Pointe dieses Artikels ist also gemacht, haha. Aber hey: In diesem Avec kann man immerhin 1) einkaufen, 2) Kaffee trinken und 3) Zugtickets kaufen oder 4) alles gleichzeitig. Also, rein ins Vergnügen:

Aus den Lautsprechern läuft Radio Swisspop. Eagles, Huey Lewis, Sting. Halt alles, was nervt. Nur keine Euphorie, ist ja nur November, und noch nicht mal Wochenende. An strahlenden Juli-Samstagen gibt’s dann Tina Turner auf die Ohren, immerhin, simply the best, was dieser Kacksender zu bieten hat.

Nach diesem grausamen Hör-Erlebnis schärfe ich nun meinen Sehsinn: Ich sehe zwei Techniker. Sie ficken eine … äh! Sie flicken eine Lampe. Beide stehen auf je einer Leiter. In dieser Branche hat man nicht seinen eigenen Laptop oder seinen eigenen Schutzhelm, sondern seine eigene Leiter. Trotz eigener Leiter ist es kein leichter Job, denn die Lampe kann während der Dauer meines Aufenthalts – 8 Minuten – nicht geflickt werden. Aber hey, sind ja noch 6 Stunden 15 bis Feierabend. Erst mal ein Schinkensandwich und ein Red Bull verdrücken. In der Mittagspause gibt es dann Salamisandwich mit Cola. Alles zu seiner Zeit.

Nicht auf einer Leiter, sondern auf einem Elefantenfuss steht eine Mitarbeiterin des Avec. Sie flickt auch keine Lampe, sondern füllt das Regal mit Pringles-Dosen aller Art. «Classic Paprika», «Sweet Paprika», «Hot Paprika Chili», die «Sour Cream & Onion», die «Texas BBQ», die «Smokey Bacon» – und natürlich Pringles Original, «die Sorte, mit der alles begann», «in der kultigen Form eines hyperbolischen Paraboloids», steht wirklich so auf der Website. Nerds gelten heute noch immer als uncool, aber Wanna-Be-Nerds sind eine beliebte Zielgruppe. «Omg, ich bin ja voll der Nerd !!!111einself!», träum weiter.

In der kleinflächigen Verkaufsstelle des Avec am Hochfrequenz-Bahnhof Neuhausen – heimlicher Hauptverkehrsknotenpunkt im Herzen Zentraleuropas – gibt es natürlich nicht nur Leitern und Elefantenfüsse, nein, in diesem kleinen Menschenzoo gibt es auch noch handelsübliche Stühle, bevorzugter Lebensraum von Managerinnen, Sekretären und Bürogummis aller Kulör. Der Stuhl hält die Schweiz zusammen. Das Land der Vielfalt, geeint durch den Stuhl.

Auf einem solchen Stuhl sitzen vermutlich gerade Abertausende Schweizerinnen und Schweizer, aber eben auch Herr Otto Normalverbraucher, hier und jetzt im Avec in Neuhausen. Seine Garderobe: schwarze Sonnenbrille auf grauer Baseballcap, schwarze Fleecejacke über grauem Shirt (mit Bärenprint, ohje ohje!), schwarze Socken in grauen Sneakers, dazu dunkelgraue Hosen. Fifty Shades of Auf-keinen-Fall-Auffallen, haha! Der Typ hat grobe Hände, ein sattes Bäuchlein und eine golden glänzende Stumpfnase. Er liest den BLICK. Thema heute unter anderem: «Wie Goldstumpfnasen der Kälte trotzen» (haha, merken Sie?). Der Artikel gibt keine klaren Antworten, verweist aber am Schluss in Kursivschrift auf eine BBC-Doku-Serie. Vom Papier-BLICK in Neuhausen in die grosse multimediale Digitalwelt der Britischen Broadcasting Corporation, Globalisierung macht’s möglich, auch wenn in Neuhausen gerne globalisierungskritische Parteien gewählt werden.

Um 10.51 Uhr kommt endlich Glamour in die Bude. Ein Mann von Welt, Typ graumelierter Geschäftsmann, betritt den Laden und will weder Pringles kaufen noch Eistee trinken oder den Blick lesen, sondern ein Zugticket kaufen.

«Zürich einfach bitte, erste Klasse halbtax». Was sonst?

«Sie wollen ein Ticket?» In hochfrequentierten Kleinverkaufsflächen sind nur die wachsten Verkäuferinnen gut genug.

«Genau. Zürich einfach. Erste Klasse. Halbtax.»

«Tageskarte?»

«Einfach.»

«Nur einfach?»

«Nur einfach. Also erste Klasse. Halbtax!»

«Sonst noch was?»

«Wie lange geht ein Cappuccino zum Mitnehmen?» Der Zug fährt in 5 Minuten. Ich weiss das, weil ich ebenfalls als Heimweh-Zürcher hier auf die nächste Verbindung ins Leben warte. Verbindung ins Leben, klingt wie ein Jugendroman für Christen.

«Einminut!» In Einemwort.

«Überredet!»

«4 Franken 30.»

Der Kunde will mit Münzen zahlen, aber sie fallen aus dem Portemonnaie auf den Boden.

«Cappuccino zum Mitnehmen. Hallo?», ruft die Verkäuferin nach Einerminut. Doch sie findet ihren Kunden nicht. Der ist nämlich ausserhalb ihres Blickfeld, er kniet am Boden und hebt Münzen auf. Ein trauriges Bild. Und wenige Minuten später schlürft er einen Cappuccino in der ersten Klasse, liest die NZZ und fährt zu einem Businesstermin an den Zürcher Paradeplatz. Steile Karriere!

Diesen Artikel widme ich meinem Onkel M.

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