Snowfall Blues – eine Klimageschichte

Unter einer Verabschiedung verstehen Nico und ich wohl etwas anderes. Ich küsse sie zart auf ihre vollen Lippen, sie langt mir unverblümt in den Schritt. Romantiker wie ich haben es heute schwer.

«Den da werde ich vermissen», flüstert sie mir ins Ohr und greift noch stärker zu.

«Reduzier mich bitte nicht auf meinen Penis, Mäuschen», flüstere ich zurück.

«Sag mir nicht Mäuschen!», erwidert sie, nicht mehr im Flüsterton.

Nico ist selbstständig. Hashtag #HomeOffice. Sie kann es sich leisten, mal einen ganzen Nachmittag mit mir im Bett zu verbringen. Aber ich bin arbeitslos, und als Arbeitsloser brauchst du eine klare Struktur in deinem Tag, sonst gehst du unter. Und Sex ist nun mal antizyklisch. Fünf Minuten Reverse Cowgirl können den ganzen Tagesrhythmus durcheinanderbringen. Deshalb verbringe ich lieber Nachmittag für Nachmittag in einem Zürcher Buchsalon und schreibe Gedichte.

Nico zieht mir die Kapuze meines Hoodies über den Kopf mit den noch nassen Haaren und tätschelt meine linke Wange.

«Mach Mama stolz mit deinen Gedichten! Und dass du mir erst zurückkommst, wenn du den Literaturnobelpreis hast!», sagt sie.

«Ja, Mäuschen». Ups.

Der Windstoss der zugeknallten Tür bläst mir die Kapuze gleich wieder vom Kopf.

Ich gehe die Treppe herunter und trete dann nach draussen. Hallo Sonnenschein. Man könnte glatt auf März tippen, wenn der Kalender nicht Januar sagen würde.

An der Tankstelle kaufe ich mir zwei doppelte Espressi, eine Packung Parisienne sowie eine Dose Apfelmus. Frühstücken wie ein König, haha. Könige sind ja auch arbeitslos und werden von den Steuerzahlerinnen durchgefüttert. Die Parallelen sind unverkennbar.

Ich richte meine Krone und laufe Zepter schwingend zum Bahnhof. Dabei trinke ich den einen Doppio und stülpe dann den Becher mit dem zweiten Doppio in den leeren Becher des ersten Doppios. Literaturnobelpreisformulierung, oder? Sie verstehen schon, was ich meine. Ich trinke auch den zweiten in einem Zug und komme langsam in Fahrt. Apropos Zug und Fahrt: Der Zug fährt gerade ein.

Ich setze mich in die erste Klasse. Nein, ich habe keinen Klassenwechsel gelöst. Nein, ich habe nicht mal ein Ticket für die zweite Klasse. «Schwarzfahrer», schimpfen Sie jetzt. «Grünfahrer», erwidere ich Ihnen. Seien Sie froh, dass ich nicht das Auto nehme. Ich fahre ÖV, damit sich die Erde nicht weiter erwärmt. Ich fahre ÖV, damit der Januar nicht weiter zum März mutiert. Ich fahre ÖV, damit die verdammte Schneefallgrenze nicht zu schnell steigt.

Eigentlich müsste ich dafür bezahlt werden. Finanzielle Anreize für Menschen, die Emissionen reduzieren, das sagen sogar die Liberalen, und die sind definitiv nicht grün. Und kommen Sie mir jetzt nicht mit den zwei Pappbechern, aus denen ich meine Espressi trinke. Jeder macht, was er kann. Und ich kann nun mal nicht ständig meinen eigenen Kaffeebecher mit mir herumtragen. Dafür kann ich ÖV fahren, und das richtig gut.

Zehn Minuten später steige ich aus dem Zug, öffne die Dose Apfelmus und kippe den Inhalt in meinen Mund. Ein paar Mal kräftig auf den Dosenboden klopfen, dann geht das ganz gut ohne Löffel. Danach rauche ich zwei Zigaretten und werfe die beiden Kippen in den dafür vorgesehenen Schlitz auf dem Deckel eines öffentlichen Abfallkorbs. Arbeitslos, dafür umweltbewusst. Lieber dem Vater Staat auf der Tasche liegen als der Mutter Natur. Gutes Motto, oder?

Nein, natürlich nicht! Milf Natur kommt nämlich alleine ganz gut zurecht. Klimaschutz ist nicht Naturschutz. Klimaschutz ist die Erhaltung unseres Lebensraums. Gesunder Egoismus. Hat aber nichts mit Naturschutz zu tun, denn die Natur kommt auch ohne Menschen klar.

Im Buchsalon erblicke ich genau einen einzigen noch freien Platz. Ich reserviere ihn, indem ich meine Jacke aus 7,5 m Entfernung auf den Stuhl werfe. Das ist ein astreiner Dreier. Ich widme ihn dem heute verstorbenen Basketballer Kobe Bryant. Vermutlich werde ich eines Tages in seine Fussstapfen treten können.

Vorerst trete ich aber mal an die Bar. Und da sogar die Latina hinter der Theke grösser ist als ich, platzt mein Basketballertraum ganz schnell.

«Das Gleiche wie immer?», fragt sie.

«Was ist denn das Gleiche wie immer?» Gegenfragen sind mein Kerngebiet.

«Doppelter Espresso?» Ihres auch.

«Wenn du mir jetzt einen doppelten Espresso gibst, sterbe ich an einem Koffeinschock.»

«Das würde ich gerne erleben», sagt sie schlagfertig, stellt mir aber ein Bier hin.

Der Buchsalon ist die Hochburg linker Frauen. #RGFF, rot-grüne Feministen-Festung. Ich bin ja nicht nur ein verkannter Basketballer, sondern auch Soziologe. Hier meine neueste Milieustudie:

Es ist Freitag, und darum ist der Buchsalon so gut besetzt. Teilzeitangestellte haben heute ihren heiligen Offday, und motivierte Studentinnen geben auch in den Semesterferien weiter Vollgas. Sie tragen heute Pferdeschwanz, Rollkragenpullover und vegane Sneakers. Sie trinken Cappuccino und Wasser ohne. Heute wird gelernt, oder es werden Bewerbungen für Praktikumsplätze geschrieben. Eventuell noch mit der besten Freundin über die letzten Tinderdates gesprochen. «Sebi war gut im Bett, aber ich bin nicht verliebt». Orgasmen seien ja auch Gefühle. März im Januar, und die Frauen spüren längst den Frühling.

Ganz anders sieht es bei unserer Zunft aus: Die meisten Männer tragen Mützen über den ungepflegten Haaren, Flecken auf den Pullovern und gähnen unentwegt. Dünne, müde Männer, die im Schneidersitz ihren Pfefferminztee trinken. Die Frauen retten gerade den Planeten, und wir ermüden ab der Geschwindigkeit, mit der sich die Welt heute dreht. Ich unterdrücke ein Mitgähnen.

Fitte Frauen, faule Männer: Das Zentrum für political correctness erhebt vermutlich Anklage gegen mich wegen Stereotypisierung aufgrund des biologischen Geschlechts. Stimmt ja auch. Bis heute Abend befinde ich mich deshalb in selbst angeordneter geistiger Untersuchungshaft. Weil ich aber selber Eyeliner, Nagellack und Leggings trage, darf ich als progressiver Gender Bender auf die ominösen mildernden Umstände hoffen.

Da mir das Kleingeld fehlt, muss ich das Bier auf den Bierdeckel schreiben lassen. Da mir schon öfter das Kleingeld gefehlt hat, rückt die Barista kein weiteres Bier heraus. Da ich ohne Pegel nicht gut dichten kann, bleibt der grosse Wurf heute aus – wenn wir vom Lederjacken-Dreier absehen.

Ich verdufte also. Ab in die Strassenbahn. Dem Dichter ohne Gedichte fehlen heute die Worte. Der Frau, die sich gerade über mich beugt, nicht.

«Ihr Billet bitte!», sagt sie mit viel Verve. Sie trägt Pferdeschwanz.

«Ich brauche kein Billet».

«Ich höre wohl nicht richtig?» Und vegane Sneakers.

«Ich bin der Sohn des SBB-Chefs».

«Soso. Wie heisst denn der SBB-Chef?» Und bestimmt auch Rollkragenpulli.

«Ich nenne ihn immer Papa.»

«Müller.»

«Ja genau, Müller! Der SBB-Chef Müller ist mein Vater.»

«Falsch! Er heisst Meyer. Hab ich dich! Komm, wir steigen aus.»

Die Kontrolleurin nimmt meine Daten auf und händigt mir dann eine Kopie aus.

«Das sind 100 Franken Busse. Die Rechnung kommt dann per Post.»

100 Franken. Von mir. Für den öffentlichen Verkehr. Für Klima und Winterschutz. Für ein Januar, der Januar bleiben darf. Keine Ahnung, wie ich das bezahlen soll. Und während ich meine Finanzen im Kopf durchgehe, beginnt es zu schneien.

Snowfall Blues.

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