Mein Winterthur

Sonntag, 17 Uhr, die letzten Stunden des Mai 2020, auch im Winterthurerischen Café Kafisatz, das seit einigen Tagen wieder geöffnet hat. Ein ca. 45-jähriger Mann setzt sich draussen an den letzten freien Holztisch und bestellt einen Eiskaffee sowie einen Eistee aus Alpenkräutern.

Er hätte dieses doppelte cool down gar nicht nötig. Seine Attitüde strahlt genug Lockerheit aus: dunkelblaue Kapuzenjacke mit geöffnetem Reissverschluss, darunter ein weisses Shirt über einem runden Wohlstandsbauch. Graue Jogginghose der us-amerikanischen Erfolgsmarke Nike, schwarze Business-Halbschuhe der französischen Erfolgsmarke Mephisto. Playmobilfrisur, Trockenrasur, Sonnebrille mit schmalen Gläsern. Die kommunikative Leitidee seines Gesamtauftritts: efrischende 0 Grad Eitelkeit.

Dem Buch, das er liest, hat er den Schutzumschlag entfernt. Man liest nur «Andreas Englisch – Mein Rom» auf dem Buchrücken. Er hat ein gutes Lesetempo drauf.

Immer wieder mal rührt er mit dem Holzstäbchen in seinem Eiskaffee. Danach legt er jeweils seinen Kopf in den Nacken, um ein paar grosse Schlucke zu trinken. Das Stäbchen drückt sich dabei leicht in seinen Wangenknochen, ein Eiswürfel berührt seine Nasenspitze, dann klingelt sein Handy. Standard Klingelton. Er trinkt ruhig fertig, stellt dann das Glas hin, nimmt sein Handy aus der Hosentasche und spricht freundlich folgende Worte: «Ja, hallo? … Ja, wieso? … Ja, heute wieder besser … Nein, nein, bisschen unterwegs … Erich? Nein, am Freitagabend … Also … danke, tschüss». Auflegen, weiterlesen.

Hinter ihm springt eine Katze ins Gebüsch, aber der Vogel war schneller. Ein Zweijähriges schüttet sich Papas Bier über sein Kleidchen, und eine männliche Labertasche nervt sein weibliches Tinderdate bereits nach wenigen Minuten. Unfassbare Szenen spielen sich ab. Doch das beeindruckt unseren Protagonisten nur wenig.

Mittlerweile habe ich recherchiert. Untertitel des Buches «Mein Rom» lautet: «Die Geheimnisse der Ewigen Stadt». Werbetext: «Dieses Buch ist kenntnisreich, spannend und amüsant, frech, verblüffend und unwiderstehlich.»

Ja, da kann Mein Winterthur natürlich nicht mithalten.

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